Nicht tot beim Dodentocht

Oder

Mit 50 an der 50

 
Vor 4 Jahren schon mal hatte ich die Idee, nach etlichen Jahren in Belgien und inzwischen an allerlei belgische Eigenheiten gewöhnt, mir mal den Dodentocht aus der Nähe anzusehen. Für alle, die es noch nicht wissen: die größte 100-km-Wanderung Europas wird Jahr für Jahr im August in und um Bornem (ein kleines, ansonsten völlig unbedeutendes flämisches Dorf)abgehalten. Damals überredete ich eine Kollegin und wir kamen immerhin rund ein Drittel weit. Und ich schwor mir: Nie wieder!

Nun soll man ja niemals nie sagen. Das hat sich wieder bestätigt, als ich relativ früh im Jahr von einem mir bis dato nur virtuell und als „etwas verrückt“ bekannten Sportfreund die vorsichtige Anfrage erhielt, ob ich mir vorstellen könnte, diesem Ereignis gemeinsam beizuwohnen. Und obwohl er eigentlich über eine Hüfte verfügt, die normalerweise nicht einmal ein 80jähriger haben möchte, meinte er damit nicht nur etwa passives Zuschauen, sondern aktives Gehen. 100 km! Ja klar. Ich hab da sonst nichts vor.

Insgeheim dachte ich eigentlich, dass es so weit gar nicht kommen würde. Gar nicht kommen könnte mit einem, der noch im Frühjahr keinen geraden Schritt machen konnte. (Unter uns gesagt, konnte er das auch jetzt noch nicht, wie ich etliche Stunden lang mal von der Seite her mal von hinten beobachten konnte.) Also habe ich zwar vorsichtshalber etwas trainiert, mal hier und da relativ regelmäßig eine längere Wanderung eingeschoben, Ausrüstung getestet und so, aber gedacht hab ich die ganze Zeit: Das wird ausfallen!


Es fiel nicht aus. Plötzlich und unerwartet war es August und ich sah mich erst dem legendären Schlussläufer und dann der Startlinie gegenüber. Letztere verbarg sich geschickt, wohl um uns an unser virtuelles Kennenlernen zu erinnern. Der Lindwurm der Wanderer, von Heiko liebevoll als „Wurst“ bezeichnet, setzte sich stockend in Bewegung und wir waren mittendrin.


Nun bin ich ja schon 11 Jahre in Belgien, aber die Mentalität des gemeinen Ureinwohners, und hier insbesondere der Flamen, ist mir nach wie vor nicht ganz aufgegangen. Die einen (der kleinere Anteil) windet sich mit einigen wenigen ausländischen Sportfreunden wie an einer Perlenschnur durch die Nacht. Viele davon setzen das bis in den späten nächsten Tag fort, denn die Erfolgsquote beim Dodentocht liegt bei etwa 60 %. Die anderen setzen sich mit allem, was nur entfernt an Gartenmöbel erinnert, in ihren gepflegten Vorgarten, der zudem mit irgendeiner hässlichen Figur (nein, keine Gartenzwerge) „geschmückt“ sein muss, haben Wein- und Sektkelche auf dem Tisch, zünden gern ein Feuer an und sehen sich entweder völlig stumm oder von dröhnender Musik aus einer professionellen DJ-Anlage begleitet, die nicht enden wollende Masse von bewegungsgestörten Artgenossen an.


Wir hatten so etwas wie einen Schlachtplan. 5 km/h muss man praktisch durchlaufen, um 20 Stunden später im Ziel zu sein. Da 24 Stunden zur Verfügung stehen, hätte man 4 Stunden für Pausen. Mir schwindelte. Noch mehr, als Heiko mir eine Tabelle mailte, die praktisch nur aus Durchgangsorten und kryptischen Zahlen bestand. Sie konnte nur einem naturwissenschaftlichen Hirn entsprungen sein, das mit meinem sprachorientierten kollidierte. Aber da ich Heikos fröhlich-selbstironische Berichte kannte, war ich sicher, dass er sie mir erklären könnte, was er dann auch tat. Aber die Tatsache, dass ich sie nun verstand, machte den Plan nicht besser.


Ich war froh, dass wir irgendwann ein gutes Tempo erreichten, so um 5,6 km/h.  Wir schwammen im Strom und würden das auch weiter tun. Meditatives Gehen ist da nicht möglich, weshalb wir zunächst ohne größere Schwierigkeiten ein Gespräch in Gang hielten. Das lenkt wirklich ab: 1. Von der Tatsache, dass man sich fragt, was man hier überhaupt macht. 2. Von dem Fakt, dass es nur sehr spärlich zu essen und zu trinken gibt. 3. Von diversen störenden, am Anfang seltener, später praktisch pausenlos auftretenden Schmerzattacken. Das waren bei mir die von einem zu schweren Rucksack und dann brennenden Füßen, bei Heiko wohl ausnahmslos von der Hüfte hervorgerufenen.
So zuckelten wir relativ gleichmäßig über die Strecke, unterbrochen nur von Futter- und Pinkelpausen, wobei letztere deutlich häufiger waren. Das lag in erster Linie daran, dass die Belgier bei dieser Veranstaltung geschickt verbergen, dass sie eigentlich mehr der französischen Küche nachhängen und man hierzulande durchaus fantastisch gut essen kann. Eine Trinkstation auf den ersten 7 km, ein mittelgroßer Flan bei km 17, wo man eigentlich dazu aufgefordert wird, wirklich nur einen zu nehmen (mehr hätte ich davon auch gar nicht runtergekriegt), 1 (in Worten e-i-n) kleiner Apfel 7 km weiter. Und so ging es weiter, wobei zwischen den einzelnen Probierdosen immer so ca. 1 ½ bis 2 Stunden strammen Gehens lagen.
Und wir gingen ziemlich stramm, fielen nie unter die 5 km/h und hatten immer reichlich Wanderer um uns herum. So kamen wir gut bis km 39,87 km an die Sporthalle Breendonk, wo Heiko zwar noch kurz überlegte, ob er die dortige Kletterwand vielleicht noch erklimmen soll, dann aber beim Aufstehen (vermutlich um rüberzulaufen) einsehen musste, dass seine Hüfte diese Idee ziemlich Scheiße fand. Meine Füße hatten offensichtlich auch geheime Absprachen getroffen, wie sie uns endlich ausbremsen könnten, denn sie brüteten etwas aus, was ich sonst nicht kenne: etliche wunderschöne mittelgroße Blasen, die an dieser exponierten Stelle leider nicht so wegzudenken waren. So entschlossen wir uns, dass der nächste Abschnitt unser letzter sein sollte.
Dafür hatten wir uns allerdings dann auch einen besonders langen ausgesucht. Rund 11 km trennten uns noch von der Hälfte der Strecke, der Palm-Brauerei in Steenhuffel, wo wir eine warme Mahlzeit bestellt hatten. 11 km, die der Naturwissenschaftler mal flugs in mindestens 2 ½ Stunden immer noch flotten Marschierens umrechnete. Mist, ich hatte schon sehr früh die Formel für v aus dem Hirn verloren. Irgendwas war da auch mit Zeit. Aber die hatten wir ja jetzt, weshalb wir dann auch noch mal ein Päuschen zwischendrin machten. Die Füße und die Hüfte ausruhen. Andere Mitleidende beobachten. Ungläubig staunen, als ein Wanderer über eine der zahlreichen Abfalltonnen springt. Spekulieren, wer wohl noch wie weit kommen wird. Wir wissen ja, dass wir noch so 7 km weit kommen werden. Oder 1 ½ Stunden, wie mir Heiko verklickert.
Die Sonne ist aufgegangen, was man zum Glück nur daran merkt, dass es hell ist. Ich freue mich an der Tatsache, dass ich weiter gelaufen bin als je zuvor. Dass ich den halben Dodentocht schaffen werde. Dafür kann man keine Ananas gewinnen, aber stolz werde ich trotzdem sein. Und froh, wenn es endlich soweit ist. Heiko meint, da vorne könnte es sein. Ich denke, dass er mich jetzt wohl nur testen möchte, ob ich überhaupt noch aufpassen kann, denn sein mitlaufendes GPS hatte vor … Stunden … was von 48 km gemurmelt. Doch dann sehe ich es auch: Da vorne taucht völlig unerwartet das 50-km-Schild auf. Mit dem hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Also nicht nur jetzt nicht, sondern nicht gedacht, dass es so was noch geben könnte. Aber so machen wir noch ein schönes Foto und ich freue mich, dass es nun also wahr ist: mit (fast) 50 Jahren werde ich 50 km gegangen sein!
Und dann ist die Palm-Brauerei da und ich merke nach dem ersten Happen des dargebotenen Nudelmenüs, das sich qualitativ nahtlos in die Menüfolge des Marsches einreiht, dass das, was ich fühle, auch Hunger ist. Die köstlichsten kalten Nudeln meines Lebens!
Dann vollbringt Heiko die intellektuelle Meisterleistung, herauszufinden, wie das mit dem Besenwagen geht. Wir kriegen einen roten Zettel mit ner Nummer in die Hand gedrückt und sollen in einem abgesperrten Bereich warten. Sitzen und Füße hoch. Ganz schön kalt hier plötzlich. Mann, das dauert. Und gerade, als sich so eine kleine Unzufriedenheit breit machen will, beginnt man, eine Menge Zahlen aufzurufen. Wir dürfen uns in eine Reihe stellen, ich erblicke noch einen Stand, an dem wir den ersten Kaffee überhaupt erhalten und verlassen dann unter dem Beifall (!) der anwesenden Helfer die Halle.
Der Bus fährt uns zurück und Heiko ist großartiger Gentleman, indem er sich zu seinem Auto schleppt und mir rechtzeitig vor Abfahrt meines Zugs nach Brüssel mein restliches Geraffel bringt, dass ich am Vorabend dort gelassen hatte. Ich nutze die Zeit zur Blasenpflege (der inneren und äußeren).
Und wie geht es einem mit (fast) 50 und 50 km auf der Uhr am Tag danach? Ausgesprochen gut. 5 Stunden Schlaf, als ich nach Hause kam, und ein normaler Nachtschlaf. Leichter Muskelkater, der nach ein paar Schritten, die nicht mal ansatzweise so schlimm aussehen wie noch einen Tag zuvor, kaum noch zu spüren ist. Nur die Blasen werden mich noch eine Weile begleiten. Und das absolut gute Gefühl, mit einem idealen Begleiter an der richtigen Stelle die richtige Entscheidung getroffen zu haben, damit der Dodentocht mir für immer als Spaß in Erinnerung bleiben wird.

Kommentare

  1. Cool :-) Da kann der Heiko Müller sich aber was einbilden. Als "großartigen Gentleman" und "idealen Begleiter" hat mich Barbara noch nie betitelt :-)

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  2. Liest sich wie 'ne Sache, die ich mir auch spassig vorstelle. Glückwunsch zur grschafften langen Hälfte *Applaus*

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  3. @Peter: Wenn Du das lieber als andere Sachen zu hören bekommen willst, kannst Du natürlich nächstes Jahr gemeinsam mit mir an der Startlinie in Bornem stehen. Ich fürchte nur, dass ich mir dann ob dieses Einfalls eher so was wie "Welcher Idiot hatte denn diese Idee?" anhören müsste... ;-)

    @Lizzy: Danke für den Applaus. Spaßig ist vielleicht nicht immer der richtige Ausdruck, aber so 2 Tage später kann ich eigentlich nur Gutes sagen. Ich ziehe aber immer noch meinen Hut vor jedem (und es waren wieder über 6000), der diese 100 km voll macht!

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  4. Babs, ich habe mich soeben entschlossen, das im nächsten Jahr auch mitmachen zu wollen, wenn sich irgendwie Urlaub in der Woche ergattern lässt. Gibt's unterwegs auch Bier? ;) Werden wir uns kennenlernen? Fragen über Fragen ....

    Gruß
    Lizzy

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  5. Aaaaaah! Das ist ja mal cool! (Lass das bloß nicht Heiko hören, der hat, glaub ich, sowieso schon ein Date mit ner Kollegin und nagelt dich so was von fest!)

    Nächstes Jahr ist es wohl am 8.8. Normalerweise mach ich so früh noch keinen Urlaub, weiß es aber natürlich jetzt noch nicht genau. Wenn ich in Belgien bin, bin ich möglicherweise zu allen Schandtaten bereit.

    Was ich auch gut fand: Viele der Einheimischen hatten ein eigenes Support-Team am Start. Der Vorteil ist, dass man nicht so viel Zeug mitschleppen muss - das würd ich nie mehr machen -, und eventuell später auch an unorthodoxen Stellen aussteigen könnte. Also, falls ich selber nicht mehr laufen kann, würde ich mich für so was auch zur Verfügung stellen.

    Bier gibt es auch, vor dem Start alles mögliche, unterwegs haben wir mindestens Duvel und Palm gesehen. Ich für meinen Teil hätte um diese Zeiten (so 5 Uhr und 8 Uhr morgens) auf keinen Fall welches gewollt, aber viele haben gesoffen :-)

    Ich werd mal versuchen, mich übers Jahr ein wenig "ranzutrainieren" und dann schauen, was geht. Kennenlernen wäre Klasse!

    LG

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  6. wer ist eigentlich Heiko? Hat der auch einen Nick? *g*

    Saufen werde ich ganz sicher nicht, da müsste ich mich dann stärker rantrainieren als ans Wandern (daran natürlich auch - kommt mir irre weit vor) und das hatte ich eher nicht vor :o) Aber die legendären belgischen Biersorten komplett auslassen, das geht natürlich erst recht nicht. So ein bisschen was von allem, dachte ich: Wandern und (Trink)Kultur .. und in Belgien war ich noch nie.

    Langer Urlaub geht im August sicher nicht. Aber dieses Jahr hab' ich mir auch zwei Tage im August für den Maare-Mosel-Lauf erkämpft. So in der Menge könnte es u. U. auch im Folgejahr klappen ...

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  7. Heiko = der Schlussläufer (www.schlusslaeufer.de) = wowbagger = Tante Elfriede? Du "kennst" ihn, ich bin sicher.

    Ich finde sowieso jeden gut, der den belgischen Biersorten aufgeschlossen gegenübersteht *hihi*. Die meisten, die sonst vor allem Weizenbier trinken, meckern. Ich find viele Sorten eigentlich lecker. Nur eben war mir gar nicht danach, dies bei dieser Wanderung zu untermauern.

    Also, ich würde sagen, lass uns mal die Sache im Auge behalten. Vielleicht schaffe ich es ja mal, das Ding anzugehen, ohne vorher noch bis 5 im Büro zu sitzen. Und ich muss fit bleiben. Und im Juli noch über die Alpen wandern...

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  8. Aaahhhh, deeer Heiko! Die Berichte von wowbagger sind ja mindestens noch legendärer als die belgischen Biersorten :o)

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  9. Genau! Deshalb ja auch der "legendäre Schlussläufer" weiter oben :-)

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